aus „Der Wanderer“ von P.Coelho
Niederlagen und Erfahrungen
Der Meister sagt:
»Wenn wir ahnen, dass die Zeit für eine Veränderung gekommen ist,
beginnen wir unbewusst, all unsere Niederlagen bis zu diesem
Augenblick wie auf einem Video vor unserem inneren Auge an uns
vorbeiziehen zu lassen.
Je älter wir werden, desto größer wird natürlich die Anzahl der
Niederlagen. Doch mit ihnen ist auch unsere Erfahrung darin
gewachsen, wie diese Niederlagen zu überwinden sind und wie man
einen Weg finden kann, der uns weiterführt. Auch dieses Band sollten
wir in unseren geistigen Videorecorder einlegen.
Sehen wir nur das Video mit den Niederlagen an, lahmt uns das.
Sehen wir uns nur das Video mit unseren Erfahrungen an, glauben wir
am Ende, daß wir weiser sind, als es tatsächlich der Fall ist.
Wir brauchen beide Videos.«
Macht Glauben unfrei?
Auf seiner Wanderung durch ein Tal in den Pyrenäen traf ein Mann
auf einen alten Hirten. Er teilte sein Essen mit ihm, und sie saßen
lange beieinander und sprachen über das Leben.
»Wenn ich an Gott glauben würde«, sagte der Wanderer, »hieße das
für mich auch, daß ich mich damit abfinde, unfrei zu sein, denn dann
würde Gott einen jeden meiner Schritte bestimmen.«
Da führte ihn der Hirt an eine Schlucht, deren Wände jedes Geräusch
klar und deutlich als Echo zurückwarfen.
»Das Leben sind diese Wände, und das Schicksal ist der Schrei jedes
einzelnen von uns«, sagte der Hirt. »Das, was wir tun, wird zu seinem
Herzen aufsteigen und unverändert zu uns zurückkehren. Gottes
Handeln ist das Echo unserer Taten.«
Überrasche dich selbst! (Anmerkung: einer meiner Lieblinge)
Versuche nicht immer vernünftig und konsequent zu sein. Schließlich
hat Paulus schon gesagt: Dieser Welt Weisheit ist Torheit vor Gott.
Immer vernünftig zu sein bedeutet, stets eine zu den Socken
passende Krawatte zu tragen. Es bedeutet, morgen die Meinung von
gestern zu vertreten. Und die Erde – bewegt sie sich etwa nicht?
Sei ruhig inkonsequent, ändere deine Meinung, es steht dir zu, du
brauchst dich dafür nicht zu schämen, solange niemand dadurch zu
Schaden kommt. Was die anderen denken könnten, ist gleichgültig,
sie denken sich ohnehin, was sie wollen. Bleib gelassen. Lass das
Universum um dich kreisen, genieße es, über dich selbst überrascht
zu sein. Welcher sich dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr, sagt
Paulus.
Aus der Reihe tanzen
Der Meister sagt:
»Heute wäre ein guter Tag, um etwas Außergewöhnliches zu tun.
Zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit auf der Straße tanzen. Einem
oder einer Unbekannten in die Augen schauen und von Liebe auf den
ersten Blick sprechen. Dem Chef gegenüber eine Idee vorbringen, mit
der wir uns vielleicht lächerlich machen, an die wir jedoch glauben.
Ein Instrument kaufen, das wir schon immer spielen wollten, aber
nicht wagten.
Die Krieger des Lichts gestehen sich solche Tage zu.
Wir können den Tag auch dazu benutzen, um alte Wunden zu lecken,
die immer noch weh tun. Wir können jemanden anrufen, den nie
wieder anzurufen wir uns geschworen haben (obwohl wir uns über
eine Nachricht auf unserem Anrufbeantworter riesig gefreut hätten).
Heute könnte ein Tag sein, der nicht ins Pensum paßt, das wir jeden
Morgen aufsetzen. Heute ist jeder Fehler erlaubt und verziehen.
Heute ist ein Tag der Lebensfreude.«
Von mutigen Schritten oder Von ganzen und halben Sachen
Der heilige Antonius lebte in der Wüste, als ein Jüngling zu ihm trat.
»Vater, ich habe alles, was ich besaß, verkauft und den Armen
gegeben. Nur ein paar Dinge habe ich behalten, die mir helfen sollen,
hier zu überleben. Ich bitte Euch, mir den Weg zur Erlösung zu
zeigen.«
Der heilige Antonius bat den Jüngling, die wenigen Dinge, die er
behalten hatte, ebenfalls zu verkaufen und mit dem Geld in der Stadt
Fleisch zu erstehen. Auf dem Rückweg solle er das Fleisch an seinem
Körper festbinden.
Der Jüngling gehorchte. Auf dem Rückweg wurde er von Hunden und
Falken angefallen, die sich jeder ein Stück von dem Fleisch
schnappen wollten.
»Hier bin ich wieder«, sagte der Jüngling und wies auf seinen
zerkratzten Körper und die zerfetzten Kleider.
»Wer einen neuen Schritt tut und noch ein bisschen vom alten Leben
beibehalten will, wird am Ende von der eigenen Vergangenheit
zerfetzt«, war der Kommentar des Heiligen.